R E C E N T

Kirschblütenfrost

Viel zu lange, und doch erst einen Moment, ist sie bereits auf dieser Suche. Auf dieser Suche nach einem nicht ganz greifbaren Etwas, das si...

11/05/2017

Kalter Rauch (Die Tänzerin II)

Sie dreht sich um sie, die Welt.
Wieder einmal, und immer noch.
Schon vor Stunden hat sie die Kontrolle über den Kreisel verloren, der ihre Welt darstellt.
Sie sitzt am Küchentisch und lauscht seinem Summen.
Der Kontrollverlust ist schnell erklärt.
Raue Mengen Alkohol und selbst verschriebenes, quasi pharmazeutisches Marihuana.
Der Geruch liegt noch in der Luft, wie ein schweres, bitteres Parfum, das von Verlorenheit, Einsamkeit und Niederlage zeugt.
Ein Duft, den man nur zu besonderen Anlässen wie Hochzeiten und anderen Trauertagen auflegt.
Ein Duft, den sie beinahe täglich trägt.
Sie sitzt am Küchentisch, ihr gegenüber der Duft.
Sie schauen sich in die Augen, nicken sich zu.
Kommunizieren miteinander, nichtssagend.
Man kann nicht nicht kommunizieren, denkt sie sich. Der Duft nickt. Der Kreisel summt.
Sie schüttelt den Kopf. Schwachsinn, murmelt sie. Wieder nickt der Duft zustimmend.
Der Kreisel, ihr Kreisel, hört nicht zu.
Er summt durch den Raum, über die blassblaue Plastiktischdecke, an den Wänden entlang, und denkt sich seinen Teil.
Oder auch nicht.
Die blassblaue Plastiktischdecke, sie weist Spuren auf.
Flecken, rot wie Blut, wie Wein.
Sie hasst Wein.
Sie sitzt am Tisch, vor der blassblauen Plastiktischdecke mit den Weinblutflecken, dem Cannabisduft gegenüber, und hasst Wein.
Der Kreisel ist im Nebenzimmer, summt dort leise, und kichert.
In ihrem Kopf spielt ein Lied, sie hört jedoch nicht hin.
Es ist nicht ihr Lied; nicht das Lied, zu dem sie tanzt. Abend für Abend.
Nicht das Lied, zu dem sie sich dreht; nicht das Lied, zu dem das Kleid weht.
Das Kleid in der Ecke, neben dem Küchenschrank.
Ein blutroter Fetzen Elend, bei seinem Anblick überkommt sie Hass.
Nicht auf das Kleid, nicht auf den Tanz.
Sie liebt den Tanz, und sie liebt die Musik.
Doch sie verabscheut ihr Leben.
Mehr noch als den Wein.
Da sitzt sie, noch immer, seit Stunden.
Ihre Welt dreht sich um sie, mal hier, mal im Nebenzimmer.
Ziemlich sicher sowohl hier als auch dort.
Die blassblaue Plastiktischdecke schaut sie vorwurfsvoll an, erfragt harsch den Grund des sinnlosen Gemetzels.
Beruhigend redet der Duft auf sie ein, Tischdecke schweig, sie wollte es nicht.
Lass sie, Tischdecke. Ihres ist es nicht, zu säubern und zu korrigieren. Ihres ist es, zu tanzen.
Denn sie ist die Tänzerin.
Denn du bist die Tänzerin, Mädchen.
Ein kalter Luftzug dringt durch das Fenster hinein, schmiegt sich unter die Tischdecke.
Schmiegt sich an ihre nackten Arme, ihre Schultern, ihr Genick.
Streichelt, liebkost ihren Rücken, die herausstehenden Wirbel unter dem Top.
Eine Zigarette zwischen ihren fragilen Fingern, bestimmt schon die Fünfzehnte heute.
Doch sie raucht sie nicht, sie starrt sie bloß an.
Beobachtet, wie das Feuer den Tabak verzehrt.
Fühlt, wie die Entropie ihre Finger wärmt.
Ihr Blick fällt erneut auf das Kleid.
Denn du bist die Tänzerin.
Denn ich bin die Tänzerin.
Doch ich bin auch die Entropie.
Ich bin der Kreisel, der sich um mich herum dreht.
Die blassblaue Plastiktischdecke, das Opfer meines nächtlichen Gemetzels.
Ich bin die Wunden meiner Seele, ich bin meine Narben.
Ich bin der Alkohol in meinem Blut.
Ich bin das Trauertagsparfum, das ich kaum ablegen kann, ohne zu kollabieren.
Ich bin kalter Rauch, verschmierte Wimperntusche, malerische Tristesse.