R E C E N T

Kirschblütenfrost

Viel zu lange, und doch erst einen Moment, ist sie bereits auf dieser Suche. Auf dieser Suche nach einem nicht ganz greifbaren Etwas, das si...

2/21/2017

"Borderlinetagebuch"

Guten Tag, ich hab Borderline. Zudem konstruiere ich mit Wesen im Entwicklungsstadium stundenlang am Tag Sandburgen und stelle sie pädagogisch korrekt, nämlich mit dem Gesicht zur Wand in die Ecke, wenn sie mich nicht beim UNO gewinnen lassen.
Kurzum, ich bin Erzieher.
Nun ist Borderline eine Sache, die der breiten Masse nicht unbedingt bekannt ist. Und wenn doch, dann in 73% aller Fälle aus Green Days „Boulevard of Broken Dreams“. Das Lied ist übrigens absoluter Schrott wie ich finde, aber das tut hier ja nix zur Sache. Können das ja mal grade klären.
Mit Borderline gibt es zwei Arten von Tagen, quasi wie beim Fernsehprogramm. An einem Tag fühlt sich alles an wie der Film John Wick, allerdings nicht mit Keanu Reeves in der Hauptrolle, sondern eher einer brandheißen, zeigefreudigen Rothaarigen. Nackt. Die ganze Zeit. Auch in Kampfszenen. Vor allem in Kampfszenen.
Kurzum: absolut erste Sahne.
Die zweite Art von Tagen fühlt sich an wie ein Prominentenspecial von Wer Wird Millionär? mit Oliver Pocher, Daniela Katzenberger, Donald Trump und dem Typen von der Pegida als Gästen und moderiert von Markus Lanz. Die Titelmelodie neu eingespielt und vertont von und mit Marianne Rosenberg und in jedem Werbeblock sieht man Heino, wie er David Bowie Songs covert und sich dabei kleidet wie eine transsexuelle Aufstockprostituierte aus Uganda.
Kurzum: Schrott, absoluter Dreck.
Diese zwei Arten von Tagen variieren unwillkürlich, der Prozess ist nicht beeinflussbar und wirkt sich, oh Überraschung, auf die Stimmung aus. Ich hab das jetzt schon 'ne ganze Weile und mit der Zeit lernt man, sich damit zu arrangieren. Ich zum Beispiel find' einfach grundsätzlich alles doof. Das spart Zeit, Emotionen und meistens auch 'ne Stange Geld. Arbeiten und leben lässt sich damit trotzdem. Es ist nicht so, dass man die Krankheit nicht mehr merkt, man gewöhnt sich nur irgendwie dran. Wie mit diesem dezenten Schnupfen, der drei Monate lang nie richtig weggeht. Man putzt sich zwar hundert Mal am Tag die Nase, aber irgendwann macht es einem weniger aus. Läuft.
Wenn dann allerdings mal wieder einer dieser John Wick Tage kommt, trifft mich das meist genauso unvorbereitet wie alle anderen. Versteh'n Sie mich nicht falsch, es is' nicht so, als würd ich dann Blumensträuße kacken und auf Regenbogen über die Straße federn, aber ich bin dann zumindest so etwas wie gesellig. Nicht arg, aber schon so, dass es im Vergleich zu sonst auffällt.
Wieso erzähl ich das? Nein, ich will kein Mitleid. Ich will auch keine Rücksicht. Noch nicht einmal Verständnis will ich, zumindest nicht für mich. Ich möchte Klarheit schaffen. Es thematisieren. Dieses traurige Tabu, mit dem psychische Krankheiten noch immer behaftet sind, aus der Welt schaffen.
Ich liebe meinen Beruf. Und ich schätze jedes einzelne meiner Kindergartenkinder. Das habe ich schon immer, und das werde ich immer. Nur weil ich psychisch krank bin, bin ich nicht gesellschaftsunfähig. Ich bin kein schlechterer Erzieher. Ich bin auch nicht verrückt. Ich bin nur mal öfter nicht so gut drauf.
Ich verbringe meine Zeit nicht damit, voller Selbstmitleid ein Klavier anzuschauen, weil ich es nicht spielen kann, oder mir aus Selbsthass Schnittwunden zuzufügen. Ich tue ganz normale Dinge. Ich koche, spiele Karten, gehe spazieren, lese Bücher. Das ist Borderline. Nichts besonderes.

Ja, viele Tage sind Schrott. Aber mal ganz ehrlich – das sind die ersten Zeichnungen Ihrer Kinder auch alle gewesen, und das wissen Sie auch. Trotzdem haben Sie sich darüber gefreut. Oder zumindest so getan. Und genau das ist der Punkt. Ich bin wie Sie. Nur hab' ich eben immer Schnupfen im Kopf.

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